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Vor eineinhalb Monaten endete eines der schönsten Kapitel meines bisherigen Lebens: ein Jahr in Tokio, der größten Stadt der Welt. Japan war schon immer mein Traumziel, wegen der faszinierenden Kultur, der Sprache, … Doch als ich erfuhr, dass ich ausgerechnet in die Hauptstadt kommen würde, war ich zunächst geschockt. Die schiere Größe und Komplexität dieser Metropole überstieg alles, was ich mir je hätte vorstellen können.
Wie können 37 Millionen Menschen auf so engem Raum zusammenleben und trotzdem immer wieder zufällig auf Bekannte stoßen? Genau das ist mir während meines Aufenthalts immer wieder passiert.
Der Flug nach Japan war für mich eine Achterbahn der Gefühle. Trotz mehrfacher Versuche, meine Gastfamilie zu kontaktieren, blieb jede Nachricht unbeantwortet. Ich hatte keinerlei Informationen, außer der Gewissheit, dass ich die ersten zehn Tage in einem Sprachlerncamp verbringen würde. Die Unsicherheit und die Angst, allein in einem fremden Land anzukommen, wurden mit jedem Kilometer größer.
Doch dann, am Flughafen, änderte sich alles: Meine Gastfamilie stand plötzlich vor mir. Nach dem Sprachcamp nahmen sie mich herzlich auf – und aus der anfänglichen Angst wurde schnell ein Gefühl von Geborgenheit und Vorfreude auf das, was ich noch alles erleben würde.

Schule in Japan

Die Schule in Japan war von Anfang an eine große Umstellung: Schuluniformen, eine reine Mädchenschule, Unterricht auch am Samstag – alles Dinge, die ich aus Österreich nicht kannte und an die ich mich erst gewöhnen musste. Meine Klasse entsprach genau dem Klischee, das ich über japanische Schülerinnen gehört hatte: still, fleißig, in den Pausen wurde gelernt oder auf dem Handy Anime geschaut.

Doch dann kam der Basketballclub – und mit ihm das genaue Gegenteil. Wir waren nur zu viert, aber die anderen Mädchen waren viel zu aktiv und konnten nicht stillsitzen. Keine Woche verging, ohne dass die neben uns trainierenden Volleyball- und Badminton-Teams genervt „しずかに!“ (Leise!) riefen oder die Augen verdrehten. Plötzlich erlebte ich eine ganz andere Seite Japans: lebhaft, chaotisch und voller Energie.

Kanji – oder: Wie ich lernte, die Schrift zu hassen (und manchmal zu lieben)

Als ich anfing, japanisch zu lernen, dachte ich: „Okay, ein neues Alphabet – wie schwer kann das schon sein?“ Dann erfuhr ich: Es sind nicht ein, nicht zwei, sondern gleich drei Schriftsysteme. Und dann die Kanji. 8.000 Stück. 8.000! Das ist kein Alphabet, das ist ein Schriftzeichen-Marathon – und ich war ohne Training angemeldet.

Das Schlimmste? Manche Kanji sehen sich so ähnlich, dass man beim Schreiben leicht in die Falle tappt. Statt 大きい („groß“) zaubert man plötzlich 犬 („Hund“) aufs Papier. „Wow, dein Hund ist aber riesig!“ – „Äh, nein, ich meinte eigentlich…“ „Nein, das war ein Kanji-Unfall!“
Am Anfang dachte ich, ich würde nie durchblicken. Aber irgendwann – zwischen verzweifeltem Grübeln und lauten Flüchen – merkte ich: Jedes Kanji, das ich lerne, ist ein kleiner Sieg. Und wenn ich heute 犬 statt 大きい schreibe, lache ich einfach und sage: „Okay, mein Hund ist halt groß. Nicht mein Problem!

Japan ein Land im Einklang mit der Natur

Der Winter in Japan führte mich auf die nördlichste Insel Japans, Hokkaido – zum Skifahren. Ich war geschockt, wie alt die Skilifte waren. Doch sie fuhren. Und ich mit ihnen. Was ich damals nicht wusste: Japan beherbergt eine der größten Bärenpopulationen der Welt. Ein halbes Jahr später stand ich dann drei Meter von einem wilden Braunbären entfernt. Natürlich gab es Sicherheitsmaßnahmen. Bevor es aufs Wandern ging, bekam jeder eine Glocke. Kleine Kuhglocke wie in Österreich – nein, eine ernsthafte, metallene Warnklingel, die jedem Bären in der Umgebung signalisieren sollte: „Achtung, Mensch im Anmarsch! Bitte nicht fressen!“
Das Ergebnis? Ein akustisches Abenteuer. Plötzlich hörte man beim Wandern nicht mehr nur Vogelgezwitscher, sondern ein Symphonieorchester aus Klingeln. Jeder Wanderer, jede Gruppe – alle klingelten fröhlich vor sich hin. Mein erster Gedanke? „Super, gleich kommt eine Kuhherde um die Ecke!“ Doch stattdessen bog eine Gruppe japanischer Wanderer um den Berg – alle brav klingelnd.

Dann die Straßen. 30 km/h? In Österreich wäre das ein Grund zur Revolte. In Japan ist es Rücksichtnahme. Warum? Damit Füchse, Rehe und andere Waldbewohner gemütlich die Straße überqueren können. Kein Hupen, kein Drängeln – nur ein kollektives „Bitte sehr, nehmen Sie sich Zeit“.
In Nara verbeugten sich Rehe vor mir. Kein Scherz. Die süßen Waldbewohner hatten gelernt: Wer sich artig verbeugt, bekommt Kekse. Das Ergebnis? Eine Rehgemeinschaft mit mehr Mitgliedern, als manche Städte Einwohner haben, die Touristen mit niedlichem Kopfnicken umgarnen – nur um sie dann gnadenlos zu verfolgen, sobald diese auch nur eine Tüte mit Reh-Keksen in der Hand halten.

Gastfreundschaft

Am Anfang waren die Japaner oft höflich, aber distanziert. Doch sobald sie merkten, dass ich japanisch spreche, änderte sich alles. Plötzlich kamen die Fragen: „Wie hast du das gelernt?“ „Woher kommst du?“ Und dann der klassische Moment: „Austria? Ach, du meinst Australien!“ Der Versuch, den Unterschied zwischen Österreich und Australien zu erklären, folgte unweigerlich – und endete meist in einem freundlichen, aber leicht verwirrten „わかたです“ (ach so).
Meine Gastfamilien nahmen mich von Anfang an herzlich auf. Jede auf ihre Weise zeigte mir, wie wunderschön und vielfältig Japan ist. Besonders unvergesslich: Ein Sushi-Restaurant mit nur zehn Plätzen, in das nur eingeladen wird, wer dem Besitzer persönlich bekannt ist. Meine Gastmutter kannte ihn schon 40 Jahre – und so saß ich plötzlich zwischen Stammgästen, die mich neugierig musterten, während ich versuchte, nicht zu viel Sojasauce mit meinen Stäbchen zu verschütten.

Als ich einmal erwähnte, dass mir Tokio ein bisschen zu viel war, kam prompt ein Angebot: „Dann zieh doch zu uns!“ – gemeint war ein Dorf, drei Stunden von Tokio entfernt, das ich einmal mit meiner Gastmutter besucht hatte. Die Familie, die mich zum zweiten Mal sah, bot mir an, einfach bei ihnen einzuziehen. So viel Gastfreundschaft hatte ich nicht erwartet – und plötzlich fühlte sich Japan nicht mehr wie ein fremdes Land an, sondern wie Zuhause.

Ein Land voller Gegensätze

Japan ist ein Land der Extreme. Einerseits präsentiert sich die Gesellschaft hochmodern: Roboter servieren in Restaurants, Wolkenkratzer schwingen sich sanft durch Erdbeben, und der Shinkansen – einer der schnellsten Züge der Welt – verbindet Städte in Rekordzeit. Andererseits pflegt Japan seine Traditionen mit großer Hingabe. Während in vielen Ländern Silvester mit Feuerwerk gefeiert wird, pilgern die Japaner zu Tempeln, um gemeinsam zu beten. Und bei der Teezeremonie ist jeder Handgriff, jede Bewegung, jedes Reinigen der Utensilien genau vorgeschrieben – jede Geste trägt Bedeutung und folgt strengen Regeln.

Das Leben in Japan kann hektisch wirken, bis man in die Traditionen des Landes eintaucht. Plötzlich scheint die Zeit stillzustehen, und das Gefühl für Hektik weicht einer tiefen Gelassenheit.

Alles in allem hat mich dieses Jahr sehr geprägt. Ich bin unendlich dankbar für die Chance, in eine Kultur einzutauchen, die meiner eigenen so fremd und gleichzeitig so bereichernd ist. Das Land, seine Traditionen und die Menschen haben mich tief beeindruckt. Es war nicht immer einfach, aber ich habe viele neue Freundschaften geschlossen und unvergessliche Eindrücke gesammelt.

Natascha F.